Erhebung und Beschreibung der Abgabemodalitäten für steriles Injektionsmaterial im Freiheitsentzug in der Schweiz. Stand 2016

Abstract

Einleitung
Drogeninjizierenden Personen wird nicht selten die Freiheit entzogen, woraufhin sie ihren Drogenkonsum nach Möglichkeit fortsetzen. Angesichts der hohen Ansteckungsrate mit HIV und HCV gilt es, Schäden, die mit dem Substanzkonsum verbunden sind, zu vermindern. Eine Massnahme hierfür ist die Abgabe von sterilem Injektionsmaterial (ASIM). Ziel dieser Massnahme ist es auch, das «Äquivalenzprinzip» zwischen den Angeboten in Freiheit und im Vollzug zu wahren.
Auch das neue Epidemiengesetz (EpG) und dessen Verordnung (EpV) verfolgen dieses Ziel. Das jüngst in Kraft getretene Gesetz wird die Einrichtungen des Freiheitsentzugs anregen, ihre diesbezügliche Praxis zu hinterfragen.
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) das Institut universitaire de médecine sociale et préventive (IUMSP) in Lausanne mit der Erhebung und Beschreibung der 2016 geltenden Abgabemodalitäten für steriles Injektionsmaterial im Freiheitsentzug in der Schweiz beauftragt.

Hintergrund
1992 leistete die Schweiz Pionierarbeit: Ein Strafvollzugsarzt gab auf eigene Initiative steriles Injektionsmaterial an Personen im Freiheitsentzug ab. Kurz darauf startete in der Justizvollzugsanstalt für Frauen Hindelbank ein vom BAG unterstütztes Pilotprojekt. Für die Personen im Freiheitsentzug wurden sechs Spritzentauschautomaten aufgestellt. Die Umsetzung dieses Pilotprojekts erwies sich als problemlos und führte zur Feststellung, dass die Bereitstellung von sterilem Injektionsmaterial machbar und sinnvoll ist. 2001 boten sieben Einrichtungen in der Schweiz Eingewiesenen, die intravenös psychoaktive Substanzen konsumieren, steriles Injektionsmaterial an. Ende 2015 haben erst 15 der 117 Schweizer Einrichtungen des Freiheitsentzugs ASIM-Strukturen: zwei Einrichtungen im Kanton Solothurn, drei im Kanton Bern, eine im Kanton St. Gallen, eine im Kanton Graubünden und acht im Kanton Genf.

Studienziele und -methodik
Für die Erhebung der ASIM-Strukturen in der Schweiz wurde ein globaler Ansatz mit leitfadengestützten Interviews in allen betreffenden Einrichtungen (N=7) gewählt. Gesprächspartner war jeweils der Leiter bzw. die Leiterin des Gesundheitsdienstes oder eine an der Abgabe von sterilem Injektionsmaterial beteiligte Fachperson. Die Interviews wurden mit Zustimmung der Gesprächspartner aufgezeichnet, dann zusammengefasst und einer thematischen Querschnittsanalyse unterzogen. Ergänzt wurde das Vorgehen durch eine gezielte Auswertung der wissenschaftlichen Literatur.

Ergebnisse

Wenn die Abgabe von sterilem Injektionsmaterial der Schadensverminderung dienen soll, muss sie niederschwellig sein: anonym, ohne Vorbedingungen und ohne Wertung. In den untersuchten Einrichtungen gibt es drei Abgabemodalitäten für steriles Injektionsmaterial: persönliche Aushändigung, über Automaten und eine Kombination beider Formen.

Die Einrichtungen weisen Gemeinsamkeiten auf: Die Abgabe von sterilem Injektionsmaterial wird von den Mitarbeitenden des Gesundheitsdienstes betreut und sie richtet sich an alle Personen im Freiheitsentzug, die intravenös Drogen konsumieren.

Nach der Abgabe ist das Injektionsmaterial von den Eingewiesenen zwingend am festgelegten Ort aufzubewahren. Solange das Material sich am richtigen Ort befindet, wird es bei einer Kontrolle der Zellen nicht speziell erfasst. Die Nichtbeachtung des Aufbewahrungsorts wird jedoch sanktioniert.

In Einrichtungen, die seit über 20 Jahren steriles Injektionsmaterial abgeben, haben sich die anfänglichen Hauptbefürchtungen, der Drogenkonsum und der intravenöse Konsum könnten zunehmen oder das sterile Injektionsmaterial könnte als Waffe gebraucht werden, nicht bewahrheitet. Vielmehr hat sich die Abgabe von sterilem Injektionsmaterial positiv auf die Gesundheit der Personen im Freiheitsentzug (Abnahme von Abszessen und anderen injektionsbedingten Infektionserscheinungen), auf das Risikoverhalten (weniger gemeinsamer Spritzengebrauch, keine neuen HIV-Infektionen) und auf ihre Haltung gegenüber dem Vollzug ausgewirkt.

Am stärksten unterscheiden sich die ASIM-Strukturen bei der Information neu Eingewiesener in den Freiheitsentzug (systematisch oder nicht), bei internen Dokumenten/Richtlinien der Einrichtungsleitung mit Hinweis auf die Abgabe von sterilem Injektionsmaterial (bestehen oder fehlen) sowie beim Austausch und bei der Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheitsdienst und dem Justizvollzugspersonal (Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht, eventueller Informationsaustausch zu bestimmten Personen im Freiheitsentzug).

Lehren für die Umsetzung

Die Eigenschaften der jeweiligen Einrichtung (Grösse, Regime etc.) scheinen für das ASIM-Modell nicht ausschlaggebend zu sein. Der nachfolgenden Tabelle 1 ist zu entnehmen, welche Abgabekonstellationen wir bei unserer Erhebung vorgefunden haben.

Keine Argumente sprechen stärker für die eine oder andere Abgabemodalität von sterilem Injektionsmaterial. Doch wir haben Faktoren ausgemacht, die in der Summe die Schaffung von ASIM-Strukturen begünstigen: Zustimmung und Mitwirkung der Einrichtungsleitung durch eine schriftliche Richtlinie, Rückhalt und Beteiligung beim gesamten Personal (Gesundheitsdienst und Justizvollzug) sowie Begleitmassnahmen zur Förderung der Zustimmung beim Personal.

Über den Erfolg der Strukturen entscheiden dann folgende Faktoren: proaktive Information der Eingewiesenen über den Zugang zu sterilem Injektionsmaterial; einfacher, niederschwelliger Zugang (Zeiten, Berechtigung); Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht und Vertraulichkeit;

Überwachung der Abgabe von sterilem Injektionsmaterial in Form eines Monitorings; Umtausch von gebrauchtem Injektionsmaterial gegen sauberes, steriles Material.

Auch wenn der intravenöse Drogenkonsum allgemein abgenommen hat, bleibt die Bereitstellung von ASIM-Strukturen durchaus sinnvoll, sind doch Infektionskrankheiten wie Hepatitis C im Freiheitsentzug stark verbreitet.